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Im ersten Beitrag haben Sie erfahren, warum Sie das 3-Horizonte-Modell für die Bewertung Ihrer bisherigen Aktivitäten der digitalen Transformation einsetzen sollten. Jetzt möchte ich gerne einige Ideen vermitteln, wie Sie die Implikationen des 3-Horizonte-Modells organisatorisch abbilden können. Und warum Sie vorher Ihre „digitale Reife“ ermitteln sollten.


Sie wissen selbst, dass durchgreifende kreative Erneuerungen von Produkten, Services und Geschäftsmodellen nur zu erreichen sind, wenn diese auch nachhaltig und vor allem sichtbar durch das Top-Management unterstützt werden. Dies allein reicht aber noch nicht aus. Sie benötigen in Ihrer Organisation auch das notwendige „digitale Wissen“, um Veränderungsprozesse erfolgreich voranzutreiben. Hierfür können Sie die Digital-Maturity-Analyse einsetzen. Durch diese Analyse können Sie ermitteln, wie „fit“ bzw. wie „reif“ Ihr Unternehmen für ein Bestehen angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung ist (vgl. vertiefend hierzu Kreutzer, 2018; Kreutzer/Neugebauer/Pattloch, 2017).

Prüfen Sie Ihre „digitale Reife“ mit der Digital-Maturity-Analyse

Anhand von 32 Einzelkriterien können Sie die digitale Reife Ihres Unternehmens bestimmen. So können Sie Handlungsfelder und konkrete Optimierungspotenziale in Einzelbereichen Ihres Unternehmens ermitteln. Ich habe diese Methode schon mehrfach in Unternehmen angewandt – mit ganz konkreten Erkenntnissen und damit als Grundlage für die Entwicklung einer digitalen Roadmap.

In Abb. 1 sehen Sie das Grundkonzept des Digital-Maturity-Modells. Bei der Anwendung analysieren Sie Ihre Organisation anhand von acht verschiedenen Dimensionen im Hinblick auf ihre „digitale“ Ausgestaltung. Hinsichtlich dieser Dimensionen werden jeweils fünf Ausprägungsstufen unterschieden. Bei „Unaware“ ist Ihrem Unternehmen die Relevanz der entsprechenden Dimension nicht bewusst. Die Ausprägung „Conceptual“ zeigt auf, dass in Ihrem Unternehmen zu der entsprechenden Dimension bereits konzeptionelle Überlegungen angestellt wurden. Bei „Defined“ haben Sie schon einen Schritt weiter getan und Ziele, Maßnahmen und Zeitpläne erstellt. Mit der Ausprägung „Integrated“ dokumentieren Sie, dass relevante „digitale“ Lösungen in Ihrem Unternehmen bereits integriert wurden. Die höchste Stufe haben Sie mit „Transformed“ erreicht. Hier sind die notwendigen Veränderungen bereits ganzheitlich auch in der Ablauf- und Aufbauorganisation des Unternehmens verankert.

Abb. 1: Digital-Maturity-Modell
Quelle: Nach Peyman et al., 2014, S. 38

Mit der 1. Modellkomponente „Strategy“ erfassen Sie den Reifegrad Ihrer unternehmerischen Digital-Strategie. Es ist eine Kernaufgabe der Unternehmensführung, eine solche Digital-Strategie zu entwickeln, die disruptive technologische Entwicklungen und die Veränderungen im Kundenverhalten berücksichtigt. Eine wichtige Voraussetzung für die Implementierung besteht darin, dass Sie diese Digital-Strategie unternehmensintern nicht nur dokumentieren, sondern über alle Unternehmenshierarchien hinweg auch kommunizieren.

Im Mittelpunkt der 2. Modellkomponente „Leadership“ steht die Rolle, die Ihr Führungsteam im Unternehmen bei der Implementierung der Strategie einnimmt. Die Kernaufgabe des Top- und Middle-Managements besteht darin, die Relevanz der neuen Technologien zu erkennen und im gesamten Unternehmen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit des (digitalen) Wandels zu schaffen. Das erreichte Commitment Ihres Managements für diesen Wandel, das Ausmaß der involvierten Funktionsbereiche sowie die vorherrschende Führungskultur stellen wichtige Indikatoren dafür dar, ob der Change-Management-Prozess in Ihrem Unternehmen erfolgreich sein wird.

Um zu erfassen, wie weit die digitale Transformation im Produkt- und Dienstleistungsangebot schon vollzogen ist, analysieren Sie die 3. Modellkomponente „Products“. Dabei ermitteln Sie u. a., in welchem Umfang sich der Innovationsgrad des Geschäftsmodells, relative Kundenvorteile sowie eine Kostenüberlegenheit gegenüber Wettbewerbern auf die erreichte Digitalisierungstiefe der Wertschöpfungsprozesse und die durch sie erstellten Endprodukte zurückführen lassen. Sie sollten die komplette Produkt- und Servicepalette daraufhin überprüfen, wo eine Digitalisierung zu Kundenvorteilen und/oder Kostenüberlegenheit führen kann. Zusätzlich können Sie Ihre Produkt- und Service-Palette durch „digitale Angebote“ abrunden. Dabei ist auch zu prüfen, ob in Ihrem Unternehmen die Digitalisierung der Value Chain – fälschlicherweise – als reines „Effizienzprojekt“ interpretiert wird und nicht als Möglichkeit, innovative Produkt- und Service-Konzepte zu entwickeln.

Anhand der 4. Modellkomponente „Operations“ prüfen Sie zum einen, wie flexibel die Geschäftsprozesse auf neue Herausforderungen ausgerichtet werden können. Zum anderen können Sie analysieren, in welchem Ausmaß digitale Kanäle bereits intern und/oder extern zur Vernetzung von Wertschöpfungsketten genutzt werden. Damit Sie nahtlose Kundenerlebnisse („Seamless Integration“) schaffen, ist die Digitalisierung der Kernprozesse voranzutreiben. Hierzu sollten Sie prüfen, in welchem Ausmaß Daten- und Prozess-Silos – insb. aber Silos in den Köpfen der Menschen – bereits überwunden sind. Zusätzlich ermitteln Sie hier, ob laufend neue technologische Möglichkeiten im Hinblick auf ihren Wertschöpfungsbeitrag für das eigene Unternehmen untersucht – und bei positiven Leistungsbeiträgen – in die eigenen Prozesse integriert werden. Außerdem ist in diesem Bereich zu prüfen, in welchem Ausmaß Ihr Unternehmen die zur Implementierung erforderlichen Ressourcen (vor allem Budgets und Personal) bereitstellt.

Jeder Mitarbeiter Ihres Unternehmens muss im Laufe eines Arbeitstages eine Vielzahl von Entscheidungen treffen. Nicht alle dieser Entscheidungsprozesse können anhand von eindeutigen Vorgaben geregelt werden. Hier geht es bspw. um die Frage, welcher Kunde oder welches Projekt mit einer höheren Priorität zu versehen ist. In diesen Fällen beziehen sich Ihre Mitarbeiter häufig auf die 5. Modellkomponente „Culture“, die auf einem spezifischen Wertekanon des Unternehmens basiert. Damit wirkt die Unternehmenskultur unmittelbar auf den täglichen Arbeitsablauf ein. Dafür ist es wichtig, dass in dieser Kultur bereits „digitale DNA“ enthalten ist!

Deshalb sollten Sie prüfen, ob in Ihrem Unternehmen bereits eine Innovationskultur existiert, um den digitalen Wandel zu fördern. Die Unternehmenskultur kann entweder zur Innovationsbremse oder zum Innovationsbeschleuniger werden. Konzepte wie der Aufbau „interner Inkubatoren“, die Integration von Kunden in den Innovationsprozess und weitere Formen von Open Innovations ermöglichen ein Denken „out of the box“. Im Zuge der Dimension „Culture“ wird folglich durchleuchtet, wie diese im Hinblick auf Transparenz, Dynamik, Kommunikationsintensität und Change-Bereitschaft ausgestaltet ist (vgl. vertiefend Kreutzer/Neugebauer/Pattloch, 2017).

Dabei sollten Sie sich eine Aussage von Peter Drucker vor Augen führen: Culture eats strategy for breakfast!

In der 6. Modellkomponente „People“ analysieren Sie, wie umfassend es Ihnen bereits gelungen ist, eine digitale Expertise in der eigenen Belegschaft aufzubauen und entsprechende Lernprozesse unternehmensintern zu verankern. Schließlich sind in der digitalen (Arbeits-)Welt neue Qualifikationen gefordert. Für den Transformationsprozess müssen Träger von „digitalem Know-how“ an zentralen Stellen im Unternehmen verankert werden. Hierzu kann bspw. Reverse Mentoring eingesetzt werden. Dabei bilden junge Mitarbeiter „ältere“ Mitarbeiter bspw. in den sozialen Medien weiter. Gleichzeitig ist den Mitarbeitern die „Angst vor dem Neuen“ zu nehmen. Zusätzlich wird ermittelt, ob in Ihrem Unternehmen für die digitale Transformation die notwendigen Ressourcen zur Qualifizierung zur Verfügung stehen.

Ohne eine entsprechend ausgestaltete Unternehmenssteuerung können Sie eine Digital-Strategie nicht umsetzen. Anhand der 7. Modellkomponente „Governance“ wird ermittelt, wie verbindlich und ganzheitlich die Digital-Strategie über Abteilungs- und Divisionsgrenzen hinweg in Ihrem Unternehmen bereits umgesetzt wird. Außerdem können Sie analysieren, welche Steuerungsinstrumente hierzu eingesetzt werden. Eine zentrale Implementierungsvoraussetzung besteht darin, dass die Ziele der Digital-Strategie messbar definiert sind. Außerdem muss die Umsetzung der Digital-Strategie Teil der Zielvereinbarungen aller Führungskräfte Ihres Unternehmens werden. Auch dies gilt es hier zu ermitteln.

Wichtige „Enabler“ und damit „Unterstützer“ der digitalen Transformation können die digitalen Technologien sein. Erfolgsentscheidend ist es deshalb, die erforderlichen Technologien bspw. zur Daten-Analyse, zum Cross-Channel-Management, zur Prozessautomatisierung sowie zum Aufbau von Ecosystems einzusetzen. Hierauf zielt die 8. Modellkomponente „Technology“ ab. Im Zentrum steht dabei u. a. die Frage, inwieweit es in Ihrem Unternehmen bereits gelungen ist, die Weiterentwicklung der eigenen IT-Infrastruktur oder entsprechender Cloud Solutions als Kernbereich in die digitale Roadmap zu integrieren. Kunden definieren durch ihre Cross-Channel-Interaktion (offline – online) neue Anforderungen an die Kundenführung, die technologisch abzubilden sind. Die Anforderungen an diese Weiterentwicklung werden folglich insb. markt-, kunden- und damit marketinggetrieben sein und setzen eine flexible Ausgestaltung der unterstützenden Systeme voraus.

Wie gut Ihr Unternehmen insgesamt aufgestellt ist, können Sie zusammenfassend in dem in Abb. 2 zu findenden Analyse-Raster zur Bestimmung der digitalen Reife dokumentieren.

Abb. 2: Analyse-Raster zur Bestimmung der digitalen Reife

Diese Überprüfung der eigenen „digitalen Reife“ stellt für Sie eine notwendige – wenn auch häufig schmerzhafte – Prüfung dar. Nur durch eine solche ehrliche Analyse kann sichergestellt werden, dass eine erforderliche digitale Transformation auf dem „wahren“ Status quo und nicht auf Mutmaßungen aufbaut.

Fazit

Im zweiten Teil dieser Serie haben Sie erfahren, wie Sie die digitale Reife Ihres Unternehmens ermitteln und in eine konkrete Roadmap übersetzen. Im dritten und letzten Teil dieser Serie werde ich Ihnen die Innovation Engine vorstellen und erläutern. Denn, so viel sei verraten, klassische Variablen zur Skalierung Ihrer Prozesse wie Stabilität, Vorhersehbarkeit, Routine und Null-Fehler-Toleranz können Innovation nicht abbilden.

Literatur

  • Govindarajan, V./Trimble, C. (2010): The Other Side of Innovation – How to Solve the Execution Challenge, Boston: Harvard Business Review Press
  • Kotter, J. P. (2014): Accelerate – Building Strategic Agility for a Faster-moving World, Boston: Harvard Business Review Press
  • Kreutzer, R. (2018): Toolbox für Marketing und Management, Kreativkonzepte, Analysewerkzeuge, Prognoseinstrumente, Wiesbaden
  • Kreutzer, R./Land, K.-H. (2016): Digitaler Darwinismus, Der stille Angriff auf Ihr Geschäftsmodell und Ihre Marke, 2. Aufl., Wiesbaden
  • Kreutzer, R./Neugebauer, T./Pattloch, A. (2017): Digital Business Leadership – Digitale Transformation – Geschäftsmodell-Innovation – agile Organisation – Change-Management, Wiesbaden
  • Peyman, A. K./Faraby, N./Rossmann, A./Steimel, B./Wichmann, K. S. (2014): Digital Transformation Report 2014, Hrsg. Neuland GmbH & Co. KG. und WirtschaftsWoche, Köln
  • Poguntke, S. (2016): Corporate Think Tanks: Zukunftsforen, Innovation Center, Design Sprints, Kreativsessions & Co., 2. Aufl., Wiesbaden
Prof. Dr. Ralf T. Kreutzer

Prof. Dr. Ralf T. Kreutzer

Prof. Dr. Ralf T. Kreutzer ist seit 2005 Professor für Marketing an der Hochschule für Wirtschaft und Recht/Berlin School of Economics and Law. Parallel ist er als Trainer, Coach, sowie als Marketing und Management Consultant tätig. Er war 15 Jahre in verschiedenen Führungspositionen bei Bertelsmann, Volkswagen und der Deutschen Post tätig. Prof. Kreutzer hat durch regelmäßige Publikationen und Keynote-Vorträge (u.a. in Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien, Singapur, Indien, Japan, Russland, USA) maßgebliche Impulse zu verschiedenen Themen rund um Marketing, Dialog-Marketing, CRM/Kundenbindungssysteme, Database-Marketing, Online-Marketing, Social-Media-Marketing, Digitaler Darwinismus, Digital Branding, Dematerialisierung, Change-Management, strategisches sowie internationales Marketing gesetzt und eine Vielzahl von Unternehmen im In- und Ausland in diesen Themenfeldern beraten. Er ist Autor von über 40 Buchpublikationen. Sein neuestes Buch "Die digitale Verführung" erscheint Anfang 2020. www.ralf-kreutzer.de → LinkedIn → XING

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